«Die beste Gewaltprävention ist die Schulung des kritischen Denkens»

Städte wie Bern oder Winterthur versuchen mit Fachstellen, junge Menschen vom Dschihad
abzuhalten. Gegen Radikalisierung setzen sich in der Schweiz auch Muslime ein. Hafid Ouardiri, früherer
Sprecher der Genfer Moschee, versucht es in Genf mit Mediationsgesprächen.

Die Mediationen bietet Ouardiri über seine Stiftung «de l’Entre-Connaissance» an, die er seit mehr als 15
Jahren leitet. Den Erfolg gewalttätiger Organisationen erklärt er sich mit einer Orientierungslosigkeit und
Sinnentleertheit, die einige Jugendliche empfinden. Diese könnten dazu führen, in der Gewalt einen Wert zu
sehen. «Sie glauben, erst durch die Gewalt existieren zu können», sagt Ouardiri im Gespräch mit der
Nachrichtenagentur sda.

Seine Stiftung befindet sich im Genfer Quartier Pâquis. Von der Strasse dringen Stimmen und das Lachen von Kindern in den schlichten Beratungsraum. Auf dem Tisch liegt ein kleiner Teller mit orientalischen Süssigkeiten.

Das beste Mittel, um eine Radikalisierung zu verhindern, ist aus Sicht des Intellektuellen, den Jungen das
kritische Denken beizubringen. «Man muss die Jungen ganz einfach aufklären,» sagt der gebürtige Algerier, der in Frankreich studiert hat. Damit sie ihren eigenen Glauben kritisch reflektierten. Dann seien sie gar nicht erst empfänglich für gewalttätige Propaganda.

Organisationen wie der «Islamische Staat», die sonst von der Schwäche oder Unwissenheit der Jungen
profitierten, um sie zur Gewalt zu verleiten, hätten dann keine Chance mehr. «Ein kritischer Geist ist die beste Gewaltprävention», ist Ouardiri überzeugt.

Man merkt, dass er diese Sätze schon viele Male wiederholt hat. Sein Gesicht bleibt ernst, nur selten lässt sich ein feines, mediterranes Lächeln entlocken. Es müsse verhindert werden, dass sich diese Jungen nicht aufgrund ihres Glaubens von der Gesellschaft entfernten, hält er fest. Und man müsse ihnen zeigen, wie sie für ihr Leben einen anderen Sinn entdecken könnten als die Gewalt – als ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft, in der sie leben.

Imame in der Pflicht

Eine wichtige Rolle komme hierbei den Imamen zu, sagt der Stiftungspräsident. Diese seien nicht nur dazu
da, um den Islam zu lehren, sondern müssten auch aufzeigen, wie sich die Religion mit dem Leben in einer
laizistischen und multikulturellen Gesellschaft vereinbaren lasse.

Die Schweizer Moscheen müssten ihrerseits dafür sorgen, dass ihre Vorbeter die hiesige Geschichte,
Gesetze und politischen Strukturen kennen, fordert Ouardiri. Die Geistlichen sollten sich nicht einfach hinter
den Mauern ihrer Moschee verkriechen, sondern sich aktiv in die Gesellschaft einbringen.
«Aus diesem Grund bin ich strikte dagegen, dass man Imame aus dem Ausland holen lässt», sagt Ouardiri und hebt die Stimme. Diese könnten den Muslimen in der Schweiz schlecht sagen, wie sich das religiöse Leben am besten mit dem gesellschaftlichen Leben vereinbaren lasse.

Eine Art Familientherapie

Seit ihrer Gründung im Jahr 1999 wurden in der Stiftung zwischen zehn bis fünfzehn Mediationen
durchgeführt. Viel konkreter möchte der Mediator nicht werden. «Wir gehen sehr diskret vor.» Am Anfang
stehe oft eine Anfrage von Eltern, die sich direkt an die Stiftung wenden oder die von der Genfer Polizei an ihn weitervermittelt werden. Etwa Eltern, deren Sohn zum Islam konvertiert ist und plötzlich zu Hause beten will. Das bereite den Eltern Sorgen, weil sie vielleicht in den Medien von Konvertierten gehört haben, die eine Gehirnwäsche durchmachten und später in den Dschihad geschickt wurden.

Als erstes versuchen Ouardiri und sein Team jeweils, in einem vertraulichen Gespräch mit den Eltern
herauszufinden, was genau ihnen Angst macht. Ist es die Tatsache, dass der Sohn betet? Oder eher der
Umstand, dass er sich von der Familie entfernt hat? Wichtig sei, Angst abzubauen. Denn die Angst mache oft alles viel schlimmer, als es sei.

In einem zweiten Schritt gehe es darum, die Eltern mit dem Kind an denselben Tisch zu setzen. «Wenn wir
spüren, dass ein Dialog einsetzt, halten wir uns zurück.» Das Ziel sei, zu verhindern, dass es innerhalb der
Familie zum Bruch komme. Denn ein Riss in der familiären Bande könne zu jeder erdenklichen Gewalt führen, ist Ouardiri überzeugt. Der islamistische Terrorismus sei nur eine Variante davon.

Hafid Ouardiri wurde 1946 in Algerien geboren. Er war 30 Jahre lang Sprecher der Genfer Moschee. 1999
gründete er die «Fondation de l’Entre-Connaissance», um eine Brücke zwischen der muslimischen
Gemeinschaft und der Genfer Zivilgesellschaft zu schlagen. Bekannt machte ihn seine Beschwerde gegen das Minarett-Verbot.

Dieser Text wurde am 27. 05. 2016 durch die SDA publiziert und erschien danach unter anderem auf dem Onlineportal des «Tages-Anzeigers».