Hört auf zu Hoffen!

Solange wir hoffen, sind wir zum Scheitern verurteilt. Das behauptet der französische Schriftsteller Albert Camus. Er vergleicht unser Dasein auf Erden mit dem Leben von Sisyphus, der von den Göttern dazu verdammt wurde, fortwährend – und vergeblich – einen schweren Stein den Hügel hinaufzurollen. Wenn wir aufhören, uns mehr vom Leben zu erhoffen als es uns bieten kann, können wir glücklich werden, sagt er. Wir haben den Philosophen Urs Marti gefragt, ob ihn diese These überzeugt.

«Der moderne Sisyphos». Illustration: Benjamin Isliker

Wir stemmen zwar keine Steine. Dafür putzen wir Wohnungen, die immer wieder dreckig werden. Wir Zahlen Rechnungen, die immer wieder reinkommen. Wir fahren täglich zur Arbeit und stellen dort Sachen her, die selten für die Ewigkeit gemacht sind. Unser Leben ist geprägt von Routine. Und wenn wir ehrlich sind, gibt es daneben nur noch etwas, das wir wirklich mit Sicherheit wissen können: Eines Tages müssen wir sterben. Wir wissen nur noch nicht, wann. Aber spätestens an dem Tag werden unsere irdischen Projekte ein jähes Ende finden.

Das ist aber noch lange kein Grund, das Leben vorzeitig zu beenden, sagt Camus in seinem philosophischen Essay „Der Mythos des Sisyphos“. Wir müssen uns diesen harten Tatsachen vielmehr stellen. Und alle Hoffnungen auf einen höheren Sinn unserer Existenz, auf ein völlig anderes Leben oder auf ein Leben nach dem Tod aufgeben. Was bleibt, ist ein Leben im Hier und Jetzt, ein intensives Carpe Diem, eine „Leidenschaft ohne Zukunft“. Dann können wir uns auch Sisyphus als einen glücklichen Menschen vorstellen.

„Leben heisst dem Absurden ins Auge sehen.“

Albert Camus

Was taugt dieses Buch als philosophischer Ratgeber? Urs Marti, Professor für Politische Philosophie, hat sich bereit erklärt, mit uns über das Buch zu sprechen. Das erste Mal gelesen hat er es als Gymnasiast und war damals „zutiefst ergriffen und begeistert“. „All diese Begriffe, die ich damals nicht verstanden habe, wie Absurdität oder Revolte, worunter ich mir aber etwas vorgestellt habe, etwas Rebellisches, fand ich toll.“ Nun hat er das Buch Jahre später wieder zur Hand genommen – und steht dem Essay einiges skeptischer gegenüber. Aus seiner heutigen Sicht bleiben darin viele Fragen unbeantwortet.

Urs Marti ist Privatdozent für Politische Philosophie an der Universität Zürich. Über sich selbst sagt er, die Studenten hielten ihn fälschlicherweise für arrogant, dabei sei er nur ab und zu ein bisschen ironisch. Er setzt sich mit Fragen der globalen Gerechtigkeit, Demokratietheorien und den Anfängen des politischen Denkens auseinander. Marti wohnt in Cully, einer kleinen Gemeinde am Lac Léman – dem schönsten Ort der Schweiz, wie er sagt.

Herr Marti, geht es in diesem Buch überhaupt um das Scheitern?

Das Scheitern ist schon omnipräsent in diesem Buch, aber in einer nur impliziten Weise“, findet Marti. Es gehe eher um die Vergeblichkeit. Die Strafe der Götter besteht ja darin, dass Sisyphus etwas Vergebliches tun muss. Etwas, was völlig sinnlos ist. Er muss es immer wieder tun. Kann man daher sagen, dass Sisyphus immer wieder von neuem scheitert – nämlich jedes Mal, wenn der Stein wieder den Abhang hinunterrollt? Nein, sagt Marti. „Camus beschreibt Sisyphus folgendermassen: Er verachtet die Götter, er hasst den Tod, und er liebt das Leben leidenschaftlich. Er liebt das Leben so sehr, dass er alles in Kauf nimmt, was es an Widrigkeiten an sich hat.“ Die Götter hätten ihn zwar zum Scheitern verurteilt. Doch Sisyphus verstehe es nicht als Strafe. Er akzeptiere diese Vergeblichkeit. „Insofern ist Sisyphus nicht gescheitert.“

Doch was ist dann mit all jenen Menschen, die sich nach Glück und Vernunft sehnen und sich nicht mit dieser willkürlichen Welt zufrieden geben wollen? Müssen die dann scheitern? 

Schon eher! „Camus spricht irgendwo von der Sehnsucht“, sagt Marti. „All jene, die vom Leben mehr erwarten, als es wirklich bieten kann, die müssen notwendig scheitern.Und das heisst natürlich – und deshalb ist das Buch auch so populär geworden – all diese Theorien oder Ideologien, die von einer erfolgreichen Revolution, von einer Verbesserung, vom Fortschritt sprechen, die sind zum Scheitern verurteilt.“ Und so sei das Buch auch verstanden worden: Als Absage an den Marxismus und an jede revolutionäre Hoffnung.

Ist das nicht eine etwas arrogante Weltsicht?

Camus war schon ein sehr arroganter Mensch. Er hat den Anspruch des Weisen, der sagt: ‚Ich weiss etwas, was ihr nicht wisst. Und das macht die Differenz zwischen uns aus.’“ Er weiss nämlich, dass das Leben absurd ist. Und dass man das Leben in seiner ganzen Absurdität akzeptieren soll. „Also das, worauf jeder Mensch, der nicht Philosophie studiert und keine Romane geschrieben hat, auch kommen könnte“, kommentiert Marti trocken.

Das erste grosse Thema von Camus’ Essay ist tatsächlich – noch vor dem Scheitern – die Absurdität.

„Das Gefühl der Absurdität kann an jeder beliebigen Strassenecke jeden beliebigen Menschen anspringen“, behauptet Camus. Sobald ein Menschen aber dieses Gefühl einmal erfahren habe, sei danach nichts mehr wie vorher. Er beschreibt diese Begegnung so, dass die Welt uns fremd und sogar feindselig gegenübertritt. Wenn wir beispielsweise einen anderen Menschen beim Telefonieren beobachten und ihn dann einen Moment lang plötzlich nicht mehr als humanes Wesen wahrnehmen können.

„Ein Mensch spricht hinter einer Glaswand ins Telefon; man hört ihn nicht, man sieht nur sein sinnloses Minenspiel: man fragt sich, warum er lebt.“

Das Beispiel sei trivial, aber nicht unbedingt schlecht, findet Marti. „Wenn ich an der Uni bin, und in der Pause Studierende beobachte, dann tut niemand etwas anderes als in diese kleine Geräte schauen, sprechen oder schreien. Es stimmt schon, dass es etwas Inhumanes hat.“ Aber es sei nicht gerade das, was wir von einem Philosophen als Erklärung für die Absurdität erwarteten. „Bei der erneuten Lektüre des Buches ist mir aufgefallen, dass Camus nicht wirklich erklärt, was er unter Absurdität versteht“, stellt Marti fest.

Ist unsere Welt absurd?

Es ist ja offensichtlich gerade nicht die Botschaft des Buches, dass die Weltabsurd ist“, stellt Marti klar. „Sondern die Botschaft des Buches ist: Für diejenigen, die noch Hoffnung haben, die noch nostalgisch sind, muss sich die Welt als absurd erweisen.“ Dazu passt eine weitere Situation, in der uns laut Camus das Gefühl der Absurdität beschleichen kann: „Man will Geld verdienen, um glücklich zu leben, und die ganze Anstrengung, die beste Kraft eines Lebens konzentriert sich auf den Erwerb dieses Geldes. Das Glück wird vergessen, das Mittel wird Selbstzweck.“ 

Albert Camus wurde 1913 in Algerien geboren. Weltweit bekannt wurde er vor allem für seine Romane (L’Etranger, La Peste) und Theaterstücke (Les Justes). Anfangs Zwanzig wurde er Mitglied der KP Algeriens, drei Jahre später trat er wieder aus. Nach Ausbruch des zweiten Weltkriegs siedelte er nach Frankreich über. Der „Mythos des Sisyphos“ wurde 1942 publiziert. Camus zählte sich selbst nicht zu den Existenzialisten, auch wenn seine Werke oft dieser Strömung zugeordnet werden. Er starb mit 46 Jahren bei einem Autounfall.

Camus nennt Sisyphus am Schluss seines Essays den „Proletarier der Götter“. Was will er damit sagen?

„Das ist der Rest des Marxismus, der bei Camus geblieben ist“, sagt Marti. Er übernehme das Thema der Entfremdung und der entfremdeten Arbeit. Im Unterschied zu Sisyphus sei sich der gewöhnliche Lohnarbeiter seiner Lage zwar nicht bewusst. Aber er könnte sich deren bewusst werden. „Hier wird das Ganze ziemlich widersprüchlich“, findet Marti. Angenommen, Camus’ Botschaft ist einfach das Carpe Diem. Dann sei es etwas irritierend, die proletarische Existenzweise ins Spiel zu bringen. Denn diese Lebensweise zeichne sich gerade dadurch aus, dass der Arbeitstag von acht Stunden oder mehr das Carpe Diem eigentlich illusionär werden lasse.

Meint Camus mit diesem Carpe Diem nicht einfach eine Art innere Befreiung? 

„Die Einsicht in die radikale Freiheit ist für mich eines der grossen Probleme dieses Buches. Das scheint mir sehr gewagt zu sein“, kritisiert Marti. In den heutigen Freiheitstheorien gebe es das immer wiederkehrende Beispiel: Ich kann im Kerker sein, ich kann gefoltert werden, ich kann entmündigt sein, aber ich akzeptiere mein Schicksal – also bin ich frei. „Das ist ein Zynismus. Jetzt muss man sich fragen, ob nicht ein Teil dieses Zynismus bei Camus auch drin vorkommt“, gibt Marti zu bedenken.

Mit dem Akzeptieren allein ist es jedoch noch nicht getan. Camus fordert den Menschen gleichzeitig auf, sich gegen die Absurdität des Lebens aufzulehnen. Diese Auflehnung gebe dem Leben seinen Wert. 

“Was Camus unter Revolte genau versteht, bleibt in diesem Essay sehr abstrakt“, sagt Marti. „Offensichtlich besteht ja diese Revolte in keiner praktischen Tat, sondern in blossem ‚Trotz alledem’.“ Laut Camus kommt für jeden Menschen der Augenblick, wo er sich entscheiden muss, ob er es beim Nachdenken bewenden lässt oder ob er zur Handlung übergeht. Das Thema war für die Existenzialisten während der Okkupation Frankreichs natürlich sehr dringlich“, ruft Marti in Erinnerung. „Also: Schreibe ich weiter meine Bücher, oder soll ich mich dem Widerstand oder einer revolutionären Bewegung anschliessen? Da kann man sich sehr Verschiedenes darunter vorstellen.“

Und was ist hier mit der Vorgabe, dass wir nichts hoffen dürfen?Ist politisches Engagement nicht immer mit Hoffnung verbunden?Nelson Mandela zum Beispiel war jahrelang in einem Kerker eingeschlossen. Wie will man das ohne Hoffnung überleben? 

„Berechtigte Frage“, findet Marti. „Man kann sich Mandela im Kerker vorstellen: Ihm ist bewusst, dass er da vielleicht nicht lebend rauskommt. Und gleichzeitig sagt er sich: Es ist der Sinn meines Lebens, für die Emanzipation der schwarzen Bevölkerung zu kämpfen. Dazu braucht Mandela die Hoffnung.“ Wenn Mandela heute ganz objektiv die Herrschaft von Zuma beurteilen würde, könnte er das wohl nicht sehr positiv sehen. „Das heisst aber nicht, dass nicht die Hoffnung als Motivation zu einer bestimmten Handlung durchaus berechtigt gewesen ist. Das wäre jetzt wirklich eine praktische Widerlegung von Camus’ Haltung.“

Was taugt das Buch als Ratgeber?

Es gibt diese schöne Stelle, an der Camus sagt: Es gibt einen Moment, wo Sisyphus den Stein wieder fast ganz oben hat – er ist noch nicht wieder ins Rollen gekommen. Dann schaut er entspannt in die Welt. In dem Moment ist er glücklich“, sagt Marti. Und fügt dann bei: „Als therapeutische Empfehlung ist das gar nichts wert, gar nichts. Ein Mensch, der alles verloren hat, oder der schwer krank ist, der alle seine Hoffnungen begraben muss… man kann ihm den ‚Mythos des Sisyphos’ zur Lektüre vorlegen. Aber ich weiss nicht, ob es ihm dann besser geht.“

Dieser Text entstand im Frühling 2015 für das Magazin «KURT», zum Abschluss der Journalismus-Diplomausbildung an der Journalistenschule maz in Luzern. Das Magazin kam einmalig heraus, wurde von einer Handvoll Absolventen und Absolventinnen gestaltet und war dem Thema «Mut» gewidmet.