Koran-Verteilaktion «Lies!» dient Dschihadisten als Forum

Die Koran-Verteilaktion «Lies!» spielt bei der Radikalisierung von jungen Menschen in der
Schweiz eine zentrale Rolle. Sie diene als Begegnungs- und Vernetzungsplattform, sagen Experten. Doch
ähnlich wie die FIFA ist sie ein Verein – und rechtlich schwer zu belangen.

Fragt man bei der Polizei, den Städten oder dem Nachrichtendienst nach der Rolle des Vereins «Lies!», folgen stets äusserst knappe Antworten. «Dazu können wir uns nicht äussern», lautet die Standardauskunft. Gratis Korane an Passanten abzugeben, verstösst gegen kein Gesetz. Und doch taucht der Name des Vereins immer wieder auf – im Zusammenhang mit Werdegängen von Dschihadisten.

Gegründet wurde die Organisation in Deutschland, durch den Deutsch-Palästinenser Abou Nagie. Inzwischen hat sie in ganz Europa Ableger – auch in der Schweiz.

«Es sind Menschenfänger»

Lothar Janssen nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es um die Organisation geht. «‹Lies!› spielt beim Einstieg in die Radikalisierung eine massgebliche Rolle», sagt der Präsident des Schweizerischen Instituts für Gewalteinschätzung. «Und zwar überall, wo sie auftritt.» Dies sei gesicherter Forschungsstand und unter Fachleuten unbestritten. «Sie verteilen zwar nett Korane», so Janssen. «Aber es sind Menschenfänger.»

Denn bei «Lies!» gehe es ganz klar um Salafismus, eine betont fundamentalistische Auslegung des sunnitischen Islam. «Der Islamische Zentralrat und ‹Lies!› spannen eng zusammen», ist Janssen überzeugt. «Sie bilden den Nährboden dazu, labile Leute zu radikalisieren.» Rechtlich jedoch ist ihnen nichts anzuhaben. «Niemand kann sie angreifen, man hat keine Chance, sie zu verbieten», sagt Janssen. Sie gingen sehr geschickt vor und nutzten ganz legal die demokratischen Grundrechte. Es lasse sich nichts Unrechtliches nachweisen. Um sie zu belangen, müsste belegbar sein, dass sie zu Gewalt anstiften.

Die Organisation mit den Vorwürfen zu konfrontieren, ist schwierig. Zwar verfügt sie über einen Internetauftritt. Anrufe an die angegebene Telefonnummer mit deutscher Vorwahl bleiben aber unbeantwortet. Für die Schweiz sind keine Kontaktangaben erhältlich.

Vernetzungsplattform

«Es wäre besser, diese Organisation zu verbieten», sagt der Westschweizer Journalist François Ruchti. Rechtlich sei das aber sehr schwierig durchzusetzen. Zusammen mit dem ehemaligen Geheimdienstmitarbeiter Jean-Paul Rouiller hat Ruchti das Buch «Le Djihad comme destin. La Suisse pour cible?» geschrieben. Die beiden Autoren haben Werdegänge von zehn Schweizer Dschihad-Reisenden analysiert – dabei fiel ihnen auf, dass viele Dschihadisten vor ihrer Reise nach Syrien oder in den Irak die Organisation frequentierten.

Innerhalb von «Lies!» gebe es zahlreiche Dschihad-Befürworter, erklärt Ruchti. IS-Sympathisanten könnten dort sehr einfach Leute kennen lernen, die ihnen die nötigen Informationen und Kontakte für eine Dschihad-Reise besorgen könnten.

Die Organisation diene als Begegnungs- und Vernetzungsplattform. Eine direkte Verbindung zwischen der Koran-Verteilaktion und dem IS oder anderen Terrororganisationen habe jedoch noch nicht offiziell nachgewiesen werden können.

Religionsfreiheit

Anders als beispielsweise in Hamburg, wo die Stadtregierung der «Lies!»-Aktion das Verteilen des Korans verboten hat, geschieht in der Schweiz vorerst offenbar nichts. Dies zeigt das Beispiel der Stadt Winterthur.

Im Februar liessen die Behörden eine zentrale Figur der Schweizer Salafistenszene verhaften – den mutmasslichen Gründer des «Lies!»-Ablegers in der Schweiz. Daraufhin kündigte die Stadt Winterthur an, ein Verbot der Koran-Verteilaktionen zu prüfen, wie sie Ende Juni mitteilte.

Doch Mitte September war der Stand noch derselbe, wie es auf Anfrage bei der Stadtpolizei Winterthur hiess. Es sei ein neues Gesuch eingegangen für die Bewilligung von neuen Standverteilaktionen in diesem Herbst, sagte die Sprecherin der Polizei.

Das Verbot werde nach wie vor geprüft. Das Thema sei aber «etwas zurückgestellt» worden. Das Gesuch werde voraussichtlich bewilligt – denn rechtlich gelte nach wie vor die Religionsfreiheit. Ob die Organisation der Polizei nicht ein Dorn im Auge sei? «Dazu können wir uns nicht äussern.»

Der Verein ist in allen grösseren Schweizer Städten aktiv. Er gibt die kostenlosen Korane ausser in Winterthur auch in Zürich, Basel, Bern und in der Romandie an Passanten ab. Wie viele Bücher bisher in der Schweiz verteilt wurden, ist nicht bekannt. In Deutschland sind es gemäss Internetseite der Stiftung bereits mehr als eine Million Exemplare.

Dieser Text wurde am 30. 09. 2016 durch die SDA publiziert und erschien danach unter anderem in den «Freiburger Nachrichten» und auf «blick.ch».