Kristalle retten, bevor sie zu Sand werden

Neue alpine Mineralienbörse in Martigny

Mitte November wird in Martigny eine neue alpine Mineralienbörse aus der Taufe gehoben, mit Ausstellern aus der Schweiz, Frankreich und Italien. Die Börse soll auch ein Treffpunkt sein für alle, die während des Sommers im Gebirge auf Kristallsuche waren. Das „Strahlen“ wird heute vor allem als Hobby betrieben.

Die Börse wird von drei Unterwalliser Strahler-Freunden organisiert: Samuel Filliez, Justin Marquis und Jeff Osenda. Osenda, der auch Bergführer in Verbier ist, erklärt das Konzept: „Lapislazuli aus Chile oder Labradorit aus Madagaskar wird man bei uns nicht finden.“ Anders als an den grossen Messen in Basel oder in München, wo man Steine aus der ganzen Welt kaufen kann, werden in Martigny ausschliesslich alpine Mineralien im Angebot sein – ähnlich wie in Disentis GR oder Bristen UR.

In Martigny gibt es bereits eine Mineralienbörse, die jeden Sommer von der „Société de minéralogie du Bas-Valais“ organisiert wird. Die Veranstalter der neuen Börse unterstreichen denn auch, dass die Ausgabe im November nicht als Konkurrenz, sondern als Ergänzung dazu gedacht ist. Tatsächlich waren die drei Organisatoren auch an der Börse im Sommer beteiligt.

Im Unterschied zur Sommerbörse werden im November keine Schmuck- oder Zwischenhändler ausstellen, sondern ausschliesslich die Mineraliensucher selbst. Die Idee ist, dass sie ihre neuesten Funde aus der letzten Saison präsentieren. Erwartet werden 15 bis 20 Aussteller, darunter auch solche aus den französischen und italienischen Alpen.

An der neuen Mineralienbörse werden auch Aussteller aus den französischen und italienischen Alpen erwartet.

Die Messe findet bewusst etwas später im Jahr statt als viele andere Mineralienbörsen. Die Idee dahinter: So muss niemand während der Saison ein Wochenende opfern. Im November liegt in höheren Regionen Schnee, Zeit für wohltuende Geselligkeit. Denn die Kristallsuche kann mitunter eine ziemlich einsame Angelegenheit sein.

Beruf ohne Lehre

Das Strahlen ist in der Schweiz zwar ein beliebtes Hobby, dem wohl mehrere Tausend Personen nachgehen; als Beruf üben es hingegen nur sehr wenige aus. Ausschliesslich davon leben könnten Schweiz weit vielleicht ein Dutzend, allerhöchstens zwei Dutzend Personen, schätzt  die Schweizerische Vereinigung der Strahler, Mineralien- und Fossiliensammler (SVSMF).

Und beim Nachwuchs scheint es zu hapern. Diesen Eindruck hat zumindest Ewald Gorsatt, diplomierter Ingenieur und bekannter Strahler aus dem Binntal. Er führt im Sommer Schulklassen und Touristen in die Berge, um ihnen Einblick ins Handwerk zu geben. „Viele Junge versuchen den Beruf drei bis vier Jahre lang, dann geben sie auf.“

Eine der Herausforderungen: Für diesen Beruf gibt es keine Ausbildung. Auch Bücher lesen reicht nicht – vor allem dann nicht, wenn in den Büchern Klüfte beschrieben werden, die seit Jahrzehnten bekannt und inzwischen leergeräumt sind. Entweder, man wird von erfahrenen Kollegen ins Handwerk eingeführt, oder man bringt sich das Handwerk selbst bei. „Um kristallreiche Klüfte zu entdecken, muss jeder seine eigenen Methoden und Strategien entwickeln“, ist Gorsatt überzeugt. Es brauche zudem viel Geduld, denn manchmal dauere es Stunden oder Tage und Wochen, bis man fündig werde.

Vor 50 Jahren war es offenbar noch einfacher, Kristalle zu finden. Inzwischen sind viele der strahlenden Steine in Sammlungen, Museen und Schmuckschubladen gewandert. Es sind daher mehr Kenntnisse und ein grösserer Aufwand nötig, um eine kristallreiche Ader zu finden.

„Zuerst muss man sich den Felsen genau anschauen: Die Verwitterung, den Rost.“ Ein Strahler müsse solche Merkmale lesen können, sagt Gorsatt. Kommt es irgendwo zu einem Steinabbruch oder einem Erdrutsch, lohnt es sich nachzuschauen, ob dort neue Klüfte zugänglich werden. Dasselbe gilt für Felsen, die freigelegt werden, wenn ein Gletscher schmilzt, wie dies heute sehr häufig vorkommt.

Allein in der Wildnis

Auch für Jeff Osenda ist das Strahlen vor allem ein Hobby, das er seit mehreren Sommern mit dem Kollegen und Mitveranstalter Justin Marquis betreibt. Als Beruf sei es nicht geeignet: zu viel Risiko und Aufwand für zu wenig Ertrag, erklärten die beiden während eines Gesprächs im Sommer.

Wie finden sie die begehrten Steine? Sie wissen, in welchen Regionen welche Mineralien vorkommen. Vor Ort beobachten sie dann mit dem Feldstecher die Felswände, manchmal stundenlang. Wenn sie einen Riss sehen, der eine Kluft verspricht, gehen sie dorthin.

Am Ende einer Exkursion teilen sie die Steine kameradschaftlich unter sich auf, wie das bei Strahlern üblich ist. Osenda gefallen die Steine am besten im Rohzustand. Er macht nur aus den verletzten Steinen Schmuck. Die unverletzten, ganzen Kristalle behält er für seine eigene Sammlung. „Die besten Stücke verkaufen wir nicht.“ Reut es sie denn nicht, die Steine aus ihrer natürlichen Umgebung zu entfernen? Sie sehen es anders: „Wir retten die Steine, bevor sie wieder zu Sand werden“, sagt Justin Marquis mit einem Augenzwinkern.

Auf bis zu 4000 Metern über Meer und in unwirtlicher Umgebung stundenlang Steine aus dem Fels zu meisseln und diese dann kiloweise den Berg hinunterzutragen, ist jedoch mit vielen Strapazen verbunden und zudem nicht ungefährlich. Was gefällt den beiden Kollegen so sehr am Strahlen, dass sie diesen Effort jeden Sommer von Neuem auf sich nehmen? „Du bist allein in der Wildnis, und alle lassen dich in Ruhe“, sagt Osenda und grinst.

In der Schweiz nannte man Kristalle früher auch „Strahlen“, und eine Person, die nach ihnen sucht, wird als „Strahler“ oder „Strahlerin“ bezeichnet. Das Handwerk zieht bisher deutlich mehr Männer als Frauen in seinen Bann.

Die alpine Mineralienbörse findet am 13. November (13-17h) und 14. November (9-16h) in Martigny-Croix VS statt („1ère Bourse aux Minéraux Alpins“, Salle de l’Eau-Vive). Der Eintritt ist frei. Es gilt die Covid-Zertifikatspflicht.

Dieser Artikel erschien am 11. November 2021 in leicht gekürzter Form im «Walliser Boten».